Friedensgebet 19. Juni
Ökumenisches Montagsgebet am Montag, dem 19. Juni 2023 als PDF zum Download von Heike Seidel-Hölscher
Wut und Aggression in der Bibel
Deutschlandfunk Kultur
Über die Sendung:
Wut entsteht halb aus Kränkung und halb aus Ohnmacht. Aus dem Gefühl, nicht gesehen zu werden. Nicht gehört, nicht beachtet. Kain war gekränkt, dass Gott sein Opfer nicht angesehen hat. "Woher wusste er das eigentlich?", fragt Susanne Niemeyer und geht der Geschichte nach.
Der "Feiertag" im DLF zum Nachhören und Nachlesen.
Selig sind die Feindseligen?
Kain hat seinen Bruder erschlagen. Die Nachrichten sind voll davon. Auf Facebook werden Solidaritätssticker für das Opfer gepostet. Der Hashtag #ichbinabel geht viral. Was genau passiert ist: Abel und Kain, zwei Brüder, lieferten ihrem Chef einen Teil ihres Arbeitsertrags. Kain fühlte sich zu wenig gesehen. Das machte ihn wütend, sehr wütend sogar. Sein Chef bot ein Gespräch an. Kain ging nicht darauf ein. Stattdessen lockte er seinen Bruder aufs Feld und erschlug ihn dort.
Nachrichtenmagazine drucken Exklusivinterviews mit Schulfreunden und einer Nachbarin: „Er war eigentlich immer höflich. Hat gegrüßt und auch mal einen Kürbis vorbeigebracht. Der war ganz normal, so wie du und ich. Sowas hätte man doch nie gedacht!“ Schärfere Waffengesetze werden gefordert. Jemand schlägt vor, Steine, die mehr als 5 Kilo wiegen, von allen Äckern zu entfernen. Die Mutter, Eva A., habe ihm zu viel Freiheit gelassen, heißt es. Sein Umfeld habe ihm zu wenig Wertschätzung entgegengebracht. Nachdem auch die letzte Psychologin die Lage analysiert hat, wird es wieder still. Das Leben geht weiter. Irgendwo rastet immer einer aus. Es hört nicht auf. Einer schießt um sich, weil er sich benachteiligt fühlt. Ein anderer rast mit dem Auto in eine Menschengruppe. Hooligans machen Jagd auf Schwächere. Aufgebrachte Bürger und Bürgerinnen wüten in den Straßen, tragen einen Galgen bei sich und nennen das Protest. Im Internet werden Andersdenkende zu Feinden erklärt.
Die anderen sind schuld. Immer sind es die anderen, die es besser haben, Gott kann es nicht mehr hören und hält sich die Ohren zu. Aber das nützt natürlich nichts. Die Wut ist ja in der Welt und verschwindet nicht wieder. Gott fühlt sich ohnmächtig und das ist eine echte Zwickmühle. Weil die Menschen ein Machtwort von ihm erwarten, am besten ein Allmachtswort. Er hat das ausprobiert: Hat die Erde geflutet, hat Plagen geschickt, Hagel und Heuschrecken, hat Feuer regnen lassen. Nichts davon hat etwas verändert. Nichts davon hat die Welt besser gemacht. Jede Gewalt gebiert neue Gewalt. Wer Wind sät, wird Sturm ernten, und der Sturm wird zum Tornado, der alles vernichtet.
Dabei war der Anfang so vielversprechend: Gott schuf die Verantwortung und die Freiheit. Er nannte sie Adam und Eva. Mit beiden zusammen kann man gut leben auf der Erde. Die beiden zeugten zwei Kinder. Abel und Kain. Sie waren unterschiedlich, so wie es tausend unterschiedliche Menschen und Lebensweisen gibt: Jäger und Sammler. Hirte und Gärtner. Stadt- und Landmensch. Homo und Hetero. Häuslebauer und Weltenbummlerin. Christin und Buddhist. Muslima und Atheist. Veganerin und Allesesser. Handwerkerin und Kopfmensch. Ich und Du. Die Welt war kurz davor, eine bunte Love-Parade zu werden, da erfand jemand den Like-Button und der Vergleich war geboren.
Kain sah, dass Abel mehr Erfolg hatte, und das wurmte ihn. Wie konnte das sein? Beide hatten doch die gleichen Voraussetzungen. Dasselbe Elternhaus, denselben Vorgarten, die gleichen Geburtstagstorten. Beide gaben ihr Bestes. Wieso stand einer besser da, war angesehener als der andere?
Gott schweigt dazu. Dabei wäre hier eine Erklärung wirklich angebracht. Wenn alles so schön geordnet ist – warum gibt es dann Ungerechtigkeit, vor allem solche, die nicht menschengemacht ist? Warum scheint die eine ein Glückskind zu sein, während der andere gegen Depressionen kämpft? Warum stirbt ein guter Mensch viel zu früh, während ein Geldwäscher sich bis in die hohen 90er bester Gesundheit erfreut? Warum müht sich die eine, während dem anderen alles zuzufallen scheint?
Seit Anbeginn der Zeiten bleibt Gott eine Antwort schuldig. Das ist eine Zumutung. Und ein Grund, wütend zu werden.
„Frustrationstoleranz“, raunt ein Engel. „Affektkontrolle“, ein anderer. „Müsst ihr lernen. Ihr müsst lernen, damit umzugehen, dass das Leben oft ungerecht ist. Dass es keine Garantie auf Erfolg gibt.“
Aber diese Engel will keiner hören, weil ihre Antworten unbefriedigend sind und überhaupt nichts leichter machen. Genaugenommen machen sie das Leben schwieriger. Sie werfen uns auf uns selbst zurück. Sie zeigen uns unsere Ohnmacht. Und schon wieder kriecht die Wut hoch.
„Wie wäre es, wenn ihr erstmal die Ungerechtigkeit beseitigt, für die ihr selbst verantwortlich seid?“, fragen die Engel, bevor sie sich in Luft auflösen.
Was mich wütend macht: Wenn sich jemand in der Schlange vordrängelt. Wenn jemand, der reiche Eltern hat, sagt: Jeder ist seines Glückes Schmied. Putin. Leute, die vom Sofa aus sagen, Diktaturen seien auch ganz okay. Als mir mein Portemonnaie geklaut wurde und ich wusste: Der Gang zur Polizei bringt es auch nicht wieder zurück. Wenn mich jemand herablassend behandelt. Wenn die Nachbarn von Gegenüber im Garten sitzen und ihre Anlage aufdrehen. Wenn jemand haarsträubenden Unsinn als Fakt darstellt und das eigene Gefühl zur Untermauerung für ausreichend hält. Wenn eine Spinne über den Tisch krabbelt, ohne sich vorher anzukündigen. Alle, die ernsthaft behaupten, Gott sei männlich. Alle, die ernsthaft behaupten, Priester könnten nur Männer sein. Dass es immer noch kein Tempolimit gibt. Lobbyismus. Leute, die sich nicht an Spielregeln halten.
Das alles macht mich wütend.
Dass man seine Wut ruhig mal rauslassen solle, empfehlen einschlägige Psychoblogs, man könne auf ein Kissen einschlagen oder ein paar alte Teller zertrümmern. Ich glaube, das bringt nichts, jedenfalls habe ich mich selbst nach einem Wutanfall noch nie gelöster, geklärter, befriedeter gefühlt. Nur erschöpft. In der Bibel gibt es dafür Psalmen. Unter ihnen sind Gebete, die den Feinden Läuse und Schlimmeres an den Kopf wünschen, die fluchen und toben und alles Weitere an Gott delegieren. Tatsächlich bringen sie in der größten Ohnmacht Linderung, und sie bewahren vor Selbstjustiz: „Die Rache ist mein“, spricht Gott und was wie eine finstere Drohung aus „Game of thrones“ klingt, dient der Schadensbegrenzung: Mach aus deinem Herzen keine Mördergrube. Du kannst toben, aber krümme deinem Feind kein Haar. Das ist nicht dein Job. Verwünschungen und Beschimpfungen gehören weder in die Öffentlichkeit, noch ins Internet, sondern ins Gebet. Damit der Kopf wieder kühl wird, der Blick klar und der Atem ruhig.
Es gibt Leute, die explodieren regelmäßig. Wegen eines verspäteten Anschlusszugs oder der Sonntagsfahrer auf der Autobahn. Weil jemand keine Maske trägt, weil die Lasagne im Bistro auf sich warten lässt. Weil die anderen anders leben wollen und keine Ahnung haben. Zugbegleiter werden angeschrien, Polizistinnen, Mitarbeiter in sozialen Einrichtungen, Politikerinnen. Vom Internet erst gar nicht zu reden. „Das musste mal raus“, scheint ein ausreichender Grund zu sein. Aber eine Gesellschaft ist kein Kindergarten. Da kann nicht einfach jeder losschreien, wenn ihm was nicht passt. Und selbst im Kindergarten lernt man: du sollst deinen Nächsten nicht mit Bauklötzen bewerfen.
Stattdessen: Alle mal tief durchatmen, einmal um den Block laufen, wem es hilft, mit dem Wind um die Wette brüllen, und dann reden wir. Und nein, das ist kein Klischee. Das ist eine lebenslange Übung, die eigenen Gefühle, Abneigungen und Bedürfnisse zu formulieren. Und auf der anderen Seite: zuzuhören und kritisch und zugleich konstruktiv nachzufragen. So lange, bis beide Seiten einander verstanden haben und nach einer Lösung suchen können.
„Warum bist du zornig?“, fragt Gott Kain, als er dessen Wut erkennt. „Rede mit mir. Erklär mir, was dich so wütend macht.“ Aber Kain mauert und schweigt.
Wut entsteht halb aus Kränkung und halb aus Ohnmacht. Aus dem Gefühl, nicht gesehen zu werden. Nicht gehört, nicht beachtet. Als hätten die eigenen Bedürfnisse und Vorstellungen keine Relevanz. Als hätten wir nicht alles gegeben und nichts Brauchbares zustande gebracht. Wir fühlen uns ohnmächtig. Stresshormone werden ausgeschüttet, der Herzschlag beschleunigt sich, der Blutdruck steigt. Wut entfacht Energie, und wenn es nicht gelingt, sie zu kanalisieren, explodiert etwas in uns.
Kain war gekränkt, dass Gott sein Opfer nicht angesehen hat. Woher wusste Kain das eigentlich? In meiner Kinderbibel stieg von Abels Opfer Rauch zum Himmel auf, während auf Kains Seite der Rauch am Boden dümpelte. Ehrlich? Gott als Tiefdruckgebiet, das uns zu Boden drückt? Die Bibel schreibt lapidar: „Gott blickte auf Abel und auf seine Opfergabe; aber auf Kain und auf seine Opfergabe blickte er nicht.“ Kann es sein, dass Kain sich nicht angesehen gefühlt hat? Kann es sein, dass die Abwertung vor allem in seinem Kopf stattfand? Dass sie seine Angst war, nicht zu genügen? Dass er sich selbst klein machte gegenüber dem großen Bruder? Kann es sein, dass Gott gar kein Opfer verlangt hat?
Ein paar tausend Jahre nach vorn gespult. Ins Jahr 2022. Zwei Menschen opfern etwas. Etwas Wichtiges, etwas, das ihnen viel bedeutet. Sie hoffen, Gott oder das Universum oder das Schicksal zu beschwichtigen. Vielleicht spenden sie eine große Summe Geld. Vielleicht verzichten sie auf einen Lebenstraum. Vielleicht opfern sie ihre Freizeit und arbeiten hart in der Hoffnung auf ein angesehenes Leben. Bei dem einen klappt es, bei dem anderen nicht. Der eine teilt seine Erfolgsstory auf Instagram, der andere sieht zu und wird immer wütender. Er hat doch alles richtig gemacht! Seine Wut wird größer und mächtiger - auf die Gesellschaft, auf seine Mutter, die Einwanderer, sein Horoskop, die Regierung, seine Fußballmannschaft, den Fortschritt, das Internet, den Feminismus, die undurchschaubare Anzahl neuer Energydrinks. Und weil das alles nicht so richtig greifbar ist und weil er es mit Gott nicht aufzunehmen wagt, senkt er seinen Blick und sucht einen Sündenbock. Einen, der vermeintlich angesehener ist. Einen, der offenkundig schwächer ist. Da greift Gott ein und fragt: „Warum bist du zornig? Warum blickst du zu Boden? Wenn du Gutes planst, kannst du den Blick frei erheben. Hast du nichts Gutes im Sinn, lauert die Sünde vor deiner Tür. Du kannst sie beherrschen.“
Gott lässt die Freiheit sprechen. „Du entscheidest über dein Handeln. Du kannst dich beherrschen. Es liegt an dir, kein Umstand zwingt dich, dein Gesicht zu verlieren.“ Aber der Mensch will nicht hören, so wie Kain nicht mehr hören wollte. Nicht mehr abwägen, sich nicht mehr bremsen.
Im Koran, der ebenfalls von Kain und Abel erzählt, heißt es in Sure 5: „Da stiftete ihn seine Seele an, seinen Bruder zu töten, und er tötete ihn. Da wurde er einer der Verlierer.“
Kain tötete nicht, weil er ein Verlierer war. Sondern weil er tötete, wurde er zum Verlierer. Er verlor seine Freiheit, seine Unschuld, er verlor seinen Bruder. Es heißt weiter: „Wenn einer jemanden tötet (…), dann ist das, als ob er die Menschen allesamt getötet hätte. Wenn aber einer jemandem Leben schenkt, dann ist das, als ob er den Menschen allesamt Leben geschenkt hätte.“ Dieser Satz geht auf ein Sprichwort aus dem Talmud zurück: „Wer eine einzige Seele zerstört, zerstört die ganze Welt. Und wer eine einzige Seele rettet, rettet die ganze Welt.“
Die Geschichte von Kain und Abel ist nicht einfach eine „Familientragödie“. Sie ist kein „Beziehungsdrama“. Sie ist das Menschheitsdrama schlechthin: Wir können Abel oder Kain sein. Wir können zum Täter oder zur Täterin werden. Wir sind auch nach Millionen Jahren Übung nicht davor gefeit, der Versuchung die Tür zu öffnen, unsere Wut an Unschuldigen auszulassen.
Wie könnte die Geschichte anders ausgehen? Wie klänge ein alternatives Ende? Versuchen wir es. Erzählen wir die Geschichte neu:
Morgendämmerung der Welt. Kain und Abel erwachen. Kain ist Bauer, Abel ist Hirte. Die beiden sind so unterschiedlich, wie Geschwister es sein können. Dennoch sind sie Kinder derselben Eltern. Beide sind zufrieden und dankbar für ihr Leben. Sie haben das Gefühl, dafür etwas opfern zu müssen. Vielleicht ist es eine Art Bestechungsversuch, um auch das zukünftige Schicksal milde zu stimmen, vielleicht fühlen sie sich auch einfach verpflichtet. Wir wissen es nicht. Die beiden stehen also auf, putzen ihre Zähne und während sie sich die Schuhe anziehen, fragt Kain: „Warum machen wir das eigentlich? Will das Leben wirklich Opfer von uns?“ Abel zuckt mit den Schultern, denn er weiß es auch nicht. „Ist doch kein Handel, das Leben“, sagt er. „Und auch kein Wettbewerb.“
Und dann laden sie die Nachbarschaft ein zu Lamm und Ofenkartoffeln. Zu einer Komm-wie-du-bist und Bring-was-du-hast Feier, und es wird eins von diesen ganz unspektakulären Festen, bei denen man bis nachts um zwei zusammensitzt und auf das Leben anstößt. Könnte sein, dass Gott mittendrin sitzt und glücklich ist, dass die Menschen verstanden haben: Vergleiche machen unglücklich. Du brauchst Gott nichts zu opfern. Nicht das Leben, nicht die Leidenschaft. Hab keine Angst: Aus Zornesglut kann Liebesglut werden, Energie, die sich für etwas einsetzt, statt gegen etwas. Friedlich, ohne Galgen in der Hand. Seite an Seite zwischen Freiheit und Verantwortung. Frustrationstoleranz hilft. Reden hilft. Das Paradies im Hinterkopf, nur eine Erinnerung weit entfernt.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
Jessica de Rooij, Jessica de Rooij & Slovak National Symphony Orchestra, Kyrie Eleison (Track 5), CD-Titel: Sisi (Die Originalmusik aus der RTL+ Serie)
Iozn Cello, Bella Ciao (Track 2), CD-Titel: L’Altra Libertà (The Other Freedom)
Lena Hall, Peter Gabriel, Come talk to me (Track 1), CD-Titel: Obsessed: Peter Gabriel
Max Prosa, Glauben an (Track 3), CD-Titel: Keiner kämpft für sich allein
Placebo, Try better next time (Track 7), CD-Titel: Never let me go
Jan Keßler, Ab jetzt, www.monatslied.de